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KI-Verordnung: Zwischen Regulierungsnotwendigkeit und Innovationsdruck

Guido Hansch, LL.M. (Glasgow)

8.7.2025 | 5 Minuten Lesezeit

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Eine sachliche Betrachtung der Verschiebungsdebatte

Die Diskussion um eine mögliche Verschiebung der europäischen KI-Verordnung (AI Act) hat in den vergangenen Tagen erheblich an Fahrt aufgenommen. Nachdem die Bundesregierung angekündigt hat, sich in Brüssel für einen Aufschub der Umsetzung einzusetzen, stehen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft vor einer grundlegenden Frage:

Wie lässt sich der Schutz vor KI-Risiken mit der Förderung von Innovation in Einklang bringen?

Die Relevanz dieser Debatte erstreckt sich weit über technische Implementierungsdetails hinaus. Mit dem AI Act hat die Europäische Union das weltweit erste umfassende Regelwerk für Künstliche Intelligenz geschaffen – ein Gesetz, das seit dem 1. August 2024 in Kraft ist und dessen verschiedene Bestimmungen gestaffelt bis 2027 zur Anwendung kommen sollen. Die aktuelle Diskussion um eine Verschiebung berührt damit fundamentale Fragen der europäischen Digitalstrategie, der Wettbewerbsfähigkeit und des Verbraucherschutzes.

Für Unternehmen bedeutet die KI-Verordnung eine neue Compliance-Landschaft mit erheblichen Auswirkungen auf Geschäftsmodelle, Entwicklungsprozesse und Marktstrategien. Bereits ab Februar 2025 gelten erste verbindliche Bestimmungen, insbesondere für KI-Systeme mit begrenztem Risiko und bestimmte Transparenzpflichten. Die Hauptbestimmungen für Hochrisiko-KI-Systeme sollen ab August 2026 vollständig anwendbar werden.

Eine entscheidende Wendung nahm die Debatte am 4. Juli 2025, als die EU-Kommission unmissverständlich klar stellte, dass der Zeitplan für die Umsetzung des AI Act nicht ausgesetzt wird. Thomas Regnier, Sprecher der EU-Kommission, betonte in einer Pressekonferenz: „Es gibt keine ,Uhr-anhalten‘-Regel, keine Schonfrist, keine Pause“. Diese klare Positionierung Brüssels setzt den Bestrebungen der Bundesregierung und anderer Mitgliedstaaten nach einer Verschiebung deutliche Grenzen und unterstreicht die Entschlossenheit der EU, ihre Vorreiterrolle in der KI-Regulierung zu behaupten.

Unternehmensperspektive: zwischen Compliance-Kosten und Rechtssicherheit

Die Kritik aus der Wirtschaft an der KI-Verordnung ist nicht von der Hand zu weisen. Über 110 europäische Unternehmen, darunter Technologieführer wie SAP, ASML und Mistral, haben in einem offenen Brief einen „innovationsfreundlicheren Regulierungsansatz“ gefordert. Ihre Bedenken konzentrieren sich auf drei zentrale Aspekte: die Komplexität der Compliance-Anforderungen, die zeitlichen Herausforderungen bei der Umsetzung und die befürchteten Wettbewerbsnachteile gegenüber weniger regulierten Märkten.

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sind diese Sorgen berechtigt. Die KI-Verordnung erfordert von Unternehmen erhebliche Investitionen in neue Compliance-Strukturen, Dokumentationsprozesse und Risikomanagement-Systeme. Besonders für mittelständische Unternehmen können diese Anforderungen zu einer erheblichen Belastung werden, da sie oft nicht über die Ressourcen großer Konzerne verfügen, um spezialisierte Compliance-Teams aufzubauen.

Das klare Statement der EU-Kommission vom 4. Juli 2025 stellt Unternehmen nun vor vollendete Tatsachen. Die Hoffnungen auf eine Verschiebung haben zunächst einen herben Dämpfer erhalten, und die Wirtschaft muss sich auf die verbindlichen Fristen einstellen: Ab dem 2. August 2025 gelten die Vorschriften für General Purpose AI (GPAI) gemäß Artikel 52 des AI Act, ab August 2026 treten die zentralen Regelungen für Hochrisiko-KI-Systeme in Kraft. Diese Klarstellung zwingt Unternehmen zu einer Neubewertung ihrer Strategien und einer beschleunigten Vorbereitung auf die Compliance-Anforderungen.

Gleichzeitig darf jedoch nicht übersehen werden, dass Regulierung auch Chancen schafft. Rechtssicherheit und klare Standards können Innovationen fördern, indem sie Planungssicherheit schaffen und das Vertrauen von Verbrauchern und Geschäftspartnern stärken. Empirische Studien zeigen, dass gut durchdachte Regulierung Innovation nicht hemmt, sondern im Gegenteil fördern kann. Dies gilt insbesondere für Bereiche wie KI, wo Vertrauen und ethische Verantwortung entscheidende Erfolgsfaktoren darstellen.

Die deutsche Wirtschaft sollte die aktuelle Debatte als Gelegenheit nutzen, sich als verantwortungsvoller Akteur im globalen KI-Markt zu positionieren. Anstatt die Regulierung als Hindernis zu betrachten, können Unternehmen sie als Differenzierungsmerkmal und Qualitätssignal nutzen. „Made in Europe“ könnte im KI-Bereich zu einem Gütesiegel für vertrauenswürdige, ethisch entwickelte Technologie werden.

Strategische Einordnung: Verantwortung und langfristige Vision

Eine differenzierte Betrachtung der Verschiebungsdebatte erfordert die Berücksichtigung verschiedener strategischer Dimensionen. Zunächst ist festzuhalten, dass eine teilweise Verschiebung der KI-Verordnung durchaus sachlich begründbar ist. Selbst KI-Rechtsexperten, wie Prof. Dr. Philipp Hacker von der Viadrina-Universität, ein grundsätzlicher Befürworter der Regulierung, sieht den Zeitplan als „sehr ambitioniert“ an und spricht sich für eine Verschiebung der Hochrisiko-Bestimmungen aus, während die Regeln für General-Purpose-Modelle wie geplant in Kraft treten sollten.

Diese Differenzierung ist strategisch sinnvoll, da sie verschiedene Reifegrade der KI-Technologie berücksichtigt. Während für Foundation Models wie GPT bereits etablierte Bewertungsverfahren existieren, sind die Risikobewertungen für spezifische Hochrisiko-Anwendungen komplexer und erfordern möglicherweise mehr Zeit für eine sachgerechte Umsetzung.

Aus ethischer Sicht ist jedoch Vorsicht geboten. Eine Verschiebung darf nicht dazu führen, dass notwendige Schutzmaßnahmen für Verbraucher und Gesellschaft aufgeweicht werden. Gerade in sensiblen Bereichen wie Gesundheitswesen, Bildung oder Strafverfolgung, wo KI-Systeme als Hochrisiko-Anwendungen eingestuft werden, sind robuste Schutzstandards unerlässlich. Die gesellschaftliche Akzeptanz von KI-Technologien hängt maßgeblich davon ab, dass Bürger darauf vertrauen können, dass ihre Rechte und Interessen geschützt werden.

Ökologische Aspekte spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. KI-Systeme, insbesondere große Sprachmodelle, verbrauchen erhebliche Mengen an Energie. Die KI-Verordnung kann dazu beitragen, Nachhaltigkeitsstandards zu etablieren und Anreize für energieeffiziente KI-Entwicklung zu schaffen. Eine Verschiebung sollte daher nicht dazu führen, dass Umweltaspekte vernachlässigt werden.

Bezüglich der Auswirkungen auf Arbeitsplätze ist eine ausgewogene Betrachtung erforderlich. Während KI-Technologien zweifellos Arbeitsplätze verändern und teilweise ersetzen werden, kann eine verantwortungsvolle Regulierung dazu beitragen, diesen Wandel sozialverträglich zu gestalten. Die KI-Verordnung sieht beispielsweise Transparenzpflichten vor, die Arbeitnehmern helfen können, KI-basierte Entscheidungen zu verstehen und gegebenenfalls anzufechten.

Datenschutz stellt einen weiteren zentralen Aspekt dar. Die KI-Verordnung ergänzt die bestehende Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) und schafft zusätzliche Schutzstandards für KI-spezifische Risiken. Eine Verschiebung könnte Datenschutzlücken entstehen lassen, die von Unternehmen mit weniger strengen ethischen Standards ausgenutzt werden könnten.

Ausblick: Chancen in der Herausforderung

Die aktuelle Debatte um die KI-Verordnung bietet Europa die Chance, seine Position als verantwortungsvoller Technologieführer zu festigen. Das klare Bekenntnis der EU-Kommission zum ursprünglichen Zeitplan sendet ein starkes Signal an die Welt: Europa lässt sich nicht von kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen von seinem Kurs abbringen. Während die USA unter Präsident Trump versuchen, KI-Regulierung auf Bundesstaatenebene für zehn Jahre zu verbieten, und China einen eher staatlich kontrollierten Ansatz verfolgt, etabliert Europa mit seinem konsequenten Vorgehen einen „dritten Weg“ der verantwortungsvollen KI-Governance.

Die Entscheidung der EU-Kommission, am ursprünglichen Zeitplan festzuhalten, zwingt nun alle Beteiligten zu einer beschleunigten und fokussierten Vorbereitung. Dies kann paradoxerweise zu einer effizienteren Umsetzung führen, da Unternehmen und Behörden nicht mehr auf eine mögliche Verschiebung spekulieren können, sondern sich vollständig auf die Implementierung konzentrieren müssen. Gleichzeitig sollte die verbleibende Zeit intensiv genutzt werden, um die noch ausstehenden technischen Standards und Leitlinien zu entwickeln, die für eine praktikable Umsetzung erforderlich sind.

Besonders vielversprechend ist die Möglichkeit, Europa als Testmarkt für vertrauenswürdige KI zu etablieren. Unternehmen, die erfolgreich die Anforderungen der KI-Verordnung erfüllen, könnten einen Wettbewerbsvorteil in anderen Märkten erlangen, wo Verbraucher und Geschäftspartner zunehmend Wert auf ethische und transparente KI-Systeme legen.

Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung bietet ebenfalls erhebliche Chancen. Durch den verantwortungsvollen Einsatz von KI in Bereichen wie Gesundheitswesen, Bildung und Bürgerdiensten kann Europa zeigen, wie Technologie zum Gemeinwohl eingesetzt werden kann. Dies könnte zu einem wichtigen Exportartikel werden – nicht nur die Technologie selbst, sondern auch das Know-how für deren verantwortungsvolle Implementierung.

Für die deutsche Wirtschaft ergeben sich spezifische Chancen in der Entwicklung von Compliance-Technologien und -Dienstleistungen. Deutsche Unternehmen könnten zu Weltmarktführern in Bereichen wie KI-Auditierung, Risikobewertung und ethischer KI-Entwicklung werden. Dies würde nicht nur neue Geschäftsfelder eröffnen, sondern auch die Position Deutschlands als Technologiestandort stärken.

Letztendlich sollte die Debatte um die KI-Verordnung nicht als Nullsummenspiel zwischen Regulierung und Innovation verstanden werden. Vielmehr geht es darum, einen Rahmen zu schaffen, der Innovation fördert und gleichzeitig gesellschaftliche Werte schützt. Eine pragmatische Herangehensweise, die sowohl die berechtigten Sorgen der Wirtschaft als auch die Notwendigkeit des Verbraucherschutzes berücksichtigt, kann Europa dabei helfen, seine Führungsrolle in der globalen KI-Governance zu behaupten.

Die Entscheidung der EU-Kommission, am ursprünglichen Zeitplan festzuhalten, zeigt, dass Europa bereit ist, diesen schwierigen Balanceakt zu meistern. Nun liegt es an allen Beteiligten – Unternehmen, Behörden und Zivilgesellschaft –, konstruktiv zusammenzuarbeiten und die verbleibende Zeit optimal zu nutzen. Die Chancen stehen gut, dass Europa mit diesem konsequenten Vorgehen seine Position als Vorreiter für verantwortungsvolle KI-Entwicklung festigen kann.

Guido Hansch, LL.M. (Glasgow)

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