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Unabhängiges Europa –
Der Weg zur digitalen Souveränität im Zeitalter globalisierter Datenströme

Guido Hansch, LL.M. (Glasgow)

1.7.2025 | 6 Minuten Lesezeit

In grau gehaltenes Schachfeld mit den Figuren König und Königin

In einer Welt, in der Datenströme und der Zugriff auf Daten die Machtverhältnisse der Zukunft prägen, steht Europa an einem Scheideweg. Die digitale Souveränität – verstanden als die Fähigkeit, Technologien, Infrastrukturen und Daten unabhängig zu kontrollieren – ist längst zu einer der wichtigsten wirtschaftlichen und geopolitischen Fragen geworden. Während die USA und China mit Tech-Giganten wie Google, Amazon oder Tencent globale Dominanz ausüben, ringt Europa darum, seine Werte (Datenschutz, Fairness, Transparenz) und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu wahren.

Ein besonders sensibles Terrain bildet der Datentransfer zwischen Europa und den USA. Mehr als 60 Prozent der europäischen Unternehmen nutzen Cloud-Dienste amerikanischer Anbieter, während gleichzeitig Urteile des Europäischen Gerichtshofes, wie bspw. im Verfahren um Max Schrems, die Rechtsunsicherheit verschärften.

Das im Nachgang zu diesem Gerichtsverfahren 2023 eingeführte EU-U.S. Data Privacy Framework soll hier Abhilfe schaffen, doch die Debatte zeigt: Digitale Souveränität erfordert mehr als neue Abkommen – sie braucht eine europäische Vision.

Mehr als ein Schlagwort

Digitale Souveränität umfasst mindestens drei Dimensionen:

  1. Technologisch: Eigenständigkeit bei Schlüsseltechnologien wie KI, Cloud-Computing oder 6G.
  2. Wirtschaftlich: Schutz vor Abhängigkeiten (z. B. bei Mikrochips oder Cloud-Infrastrukturen).
  3. Regulatorisch: Durchsetzung europäischer Standards wie der DSGVO. KV-Verordnung und Stärkung des Binnenmarktes.

Aktuell ist Europa in kritischen Bereichen verwundbar. So kontrollieren US-Unternehmen über 80 Prozent des europäischen Cloud-Marktes, während China bei 5G-Netzen eine Schlüsselrolle spielt. Projekte wie GAIA-X, eine cloudbasierte Dateninfrastruktur „Made in Europe“, sollen Gegenmodelle schaffen – doch der Weg zur echten Unabhängigkeit ist lang.

Die EU treibt mit ihrer Digitalstrategie zahlreiche Projekte voran:

  • GAIA-X: Vernetzung europäischer Cloud-Anbieter, um Datenhoheit zu sichern.
  • Digital Markets Act: Begrenzung der Macht globaler Tech-Konzerne.
  • NIS-2-Richtlinie: Stärkung der Cybersicherheit kritischer Infrastrukturen.

Doch trotz dieser Bemühungen fehlt es an Skalierung. Europäische Start-ups wie DeepL, Mistral oder Aleph Alpha zeigen, dass Innovation möglich ist – doch ohne massive Investitionen in Höhe von 100 Milliarden Euro bis 2030 (laut EU-Kommission) bleibt Europa Getriebener.

Ein prekärer Balanceakt

Der grenzüberschreitende Datenverkehr zwischen der EU und den USA ist für die globale Wirtschaft unverzichtbar: Über 60 Prozent der europäischen Unternehmen nutzen Cloud-Dienste amerikanischer Anbieter wie Microsoft Azure oder AWS. Doch rechtlich blieb die Datenübermittlung seit dem Schrems-II-Urteil (2020) ein Minenfeld. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) kippte damals das Privacy Shield, da US-Überwachungsgesetze (z. B. Section 702 FISA) europäische Datenschutzstandards unterliefen.

Im Juli 2023 trat das EU-U.S. Data Privacy Framework in Kraft, das folgende Kernpunkte umfasst:

  • Adequacy Decision: Die EU-Kommission stuft das US-Datenschutzniveau nun als „angemessen“ ein, sodass Daten ohne zusätzliche Garantien (z. B. Standardvertragsklauseln) transferiert werden können.
  • Data Protection Review Court (DPRC): Ein unabhängiges Gremium, das Beschwerden europäischer Bürger gegen US-Geheimdienstzugriffe prüfen und Löschungen anordnen kann.
  • Zertifizierungspflicht: US-Unternehmen müssen sich beim U.S. Department of Commerce registrieren und jährlich rezertifizieren. Nur sie dürfen Daten aus der EU empfangen.
  • Einschränkungen für US-Geheimdienste: Zugriffe auf EU-Daten müssen „verhältnismäßig“ und auf nationale Sicherheitsbelange begrenzt sein.

Das Privacy and Civil Liberties Oversight Board (PCLOB) – Garant oder Schwachstelle?

Ein zentrales Element des EU-U.S. Data Privacy Framework (TDFP) ist das sogenannte Privacy and Civil Liberties Oversight Board (PCLOB). Dieses Gremium wurde geschaffen, um eine unabhängige Kontrolle der US-Geheimdienste im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten von EU-Bürgerinnen und -Bürgern zu gewährleisten. Seine Aufgaben sind zweigeteilt:

  1. Überwachung der Geheimdienste: Das PCLOB soll sicherstellen, dass Zugriffe auf europäische Daten durch US-Nachrichtendienste stets den Prinzipien der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit entsprechen. Das bedeutet, dass Überwachungsmaßnahmen nur dann zulässig sind, wenn sie zwingend erforderlich sind und die Privatsphäre der Betroffenen so wenig wie möglich beeinträchtigen.
  2. Beschwerdemechanismus: Darüber hinaus ist das PCLOB für das Monitoring des Beschwerdeverfahrens zuständig. EU-Bürger können sich beschweren, wenn sie den Verdacht haben, dass ihre Daten unrechtmäßig von US-Behörden verarbeitet wurden. Das PCLOB soll dann unabhängig prüfen, ob ein Verstoß vorliegt, und gegebenenfalls Abhilfe schaffen.

Im Januar 2025 kam es zu einer dramatischen Entwicklung: Die US-Regierung unter Präsident Trump entließ kurzerhand die demokratisch besetzten Mitglieder des PCLOB, einschließlich des Vorsitzenden, und ersetzte sie durch politisch loyale Personen. Damit wurde das Gremium faktisch lahmgelegt, da es ohne die erforderliche parteipolitische Ausgewogenheit und Expertise nicht mehr beschlussfähig ist. Die ursprüngliche Idee einer unabhängigen Kontrolle wurde somit massiv beschädigt.

Diese Entwicklung hat weitreichende Folgen:

  • Verlust der Kontrollfunktion: Das PCLOB kann seine Aufgaben nicht mehr wahrnehmen. Es gibt aktuell keine wirksame, unabhängige Kontrolle der US-Geheimdienste im Hinblick auf Zugriffe auf europäische Daten.
  • Aushöhlung des Data Privacy Framework: Die Unabhängigkeit des PCLOB war eine der zentralen Voraussetzungen für die Angemessenheitsentscheidung der EU-Kommission. Sie sollte garantieren, dass europäische Datenschutzstandards bei Datentransfers in die USA eingehalten werden. Mit der Schwächung des PCLOB steht diese Grundlage nun auf wackeligen Beinen.

Machtverschiebung zugunsten der Exekutive

Parallel zur Entmachtung des PCLOB wurde im Februar 2025 mit der Executive Order „Ensuring Accountability for All Agencies“ der Einfluss des Präsidenten auf Bundesbehörden weiter gestärkt. Davon betroffen ist auch die Federal Trade Commission (FTC), die für die Zertifizierung und Überwachung US-amerikanischer Unternehmen im Rahmen des TDFP zuständig ist. Kritiker sehen darin eine systematische Schwächung unabhängiger Kontrollinstanzen und eine Zentralisierung der Macht im Weißen Haus.

Die EU-Kommission reagierte bislang erstaunlich zurückhaltend auf diese Entwicklungen. Obwohl die Unabhängigkeit des PCLOB faktisch nicht mehr gegeben ist, hält Brüssel formal am TDFP fest. Offizielle Stellungnahmen betonen, dass das Abkommen weiterhin in Kraft sei. Datenschützer und zivilgesellschaftliche Organisationen werfen der Kommission vor, die Augen vor der Realität zu verschließen und dringend notwendige Konsequenzen zu vermeiden. Justizkommissar Michael McGrath verwies lediglich auf „laufende Gespräche“ mit den US-Behörden, ohne konkrete Maßnahmen anzukündigen oder eine Neubewertung des Angemessenheitsbeschlusses einzuleiten.

Konkrete Auswirkungen für Unternehmen

Für Unternehmen in Europa bedeutet diese Lage eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Die wichtigsten Herausforderungen und empfohlenen Maßnahmen sind:

  • Datenströme transparent machen: Unternehmen müssen sämtliche Datenübertragungen in die USA – einschließlich aller Subunternehmer und Dienstleister – erfassen und dokumentieren. Nur so lassen sich Risiken und Haftungsfragen bewerten.
  • Auf dem Laufenden bleiben: Es ist ratsam, die Empfehlungen der europäischen Datenschutzbehörden, wie etwa das im Januar 2025 aktualisierte Transfer Impact Assessment (TIA) der französischen CNIL, genau zu verfolgen. Dort werden technische Schutzmaßnahmen wie Tokenisierung, Pseudonymisierung oder Zero-Knowledge-Verschlüsselung empfohlen, um das Risiko unbefugter Zugriffe zu minimieren.
  • Alternative Transfermechanismen prüfen: Unternehmen sollten sich nicht allein auf das TDFP verlassen, sondern parallel Standardvertragsklauseln (SCC) oder Binding Corporate Rules (BCR) vorbereiten, um im Fall einer Aussetzung des TDFP handlungsfähig zu bleiben.
  • Europäische Anbieter in Betracht ziehen: Die Prüfung von europäischen Cloud- und IT-Dienstleistern wie GAIA-X kann eine strategische Option sein, um die Abhängigkeit von US-Anbietern zu verringern.

Die aktuelle Entwicklung birgt darüber hinaus erhebliche Risiken. Sollte das PCLOB nicht wieder unabhängig und arbeitsfähig gemacht werden, ist ein weiteres Urteil des Europäischen Gerichtshofs (Stichwort „Schrems III“) wahrscheinlich. Dies könnte das TDFP kippen und den Datentransfer in die USA erneut massiv erschweren. Angesichts der Tatsache, dass mehr als 80 Prozent der europäischen Cloud-Infrastruktur von US-Anbietern kontrolliert wird, wäre ein abrupter Ausstieg aus dem TDFP für viele Unternehmen kaum zu bewältigen – es besteht also eine wirtschaftliche Abhängigkeit. Außerdem untergräbt die wiederholte Unsicherheit das Vertrauen in transatlantische Datenabkommen und könnte dazu führen, dass sich europäische Unternehmen und Bürger zunehmend von US-Diensten abwenden.

Die Krise um das PCLOB zeigt, wie fragil die aktuelle rechtliche Grundlage für den transatlantischen Datentransfer ist. Ohne eine glaubwürdige und unabhängige Aufsicht droht das Data Privacy Framework zu einem Papiertiger zu werden. Europa steht nun vor der Wahl, entweder entschlossen auf die Einhaltung seiner Datenschutzstandards zu pochen, oder erneut in eine Phase der Unsicherheit und Abhängigkeit zu geraten.

Die Achillesferse der Souveränität

Trotz aller Fortschritte bleiben zentrale Probleme. Es besteht eine Abhängigkeit von US-Tech: Europäische Alternativen wie die Bundescloud oder deutsche KI-Modelle sind noch Nischenlösungen. Darüber hinaus schwächen nationale Alleingänge (z. B. französische „Cloud de Confiance“) den EU-Binnenmarkt. Geopolitische Spannungen – wie etwa US-Sanktionen oder chinesische Investitionen in kritische Infrastrukturen (z. B. Hafen Rotterdam) – gefährden derweil die strategische Autonomie.

Digitale Souveränität bedeutet nicht Abschottung, sondern die Fähigkeit, auf Augenhöhe zu kooperieren. Europa muss dafür eigene Infrastrukturen beschleunigen, transatlantische Brücken bauen, um das Data Privacy Framework konsequent zu überwachen und nachzuschärfen. Letztlich ist es unabdingbar, Bürger einzubeziehen: Digitale Souveränität sollte als gesellschaftliches Projekt verstanden werden – von Bildung bis zu Open-Source-Initiativen.

Die nächsten Jahre werden entscheiden, ob Europa wieder zum Gestalter der digitalen Zukunft wird – oder weiterhin zum Spielball anderer Staaten.

Guido Hansch, LL.M. (Glasgow)

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