Beliebte Suchanfragen
//

Vibe coding – Was nun?

12.4.2025 | 9 Minuten Lesezeit

Illustration von Mensch-Maschinen-Hybriden vor Computern

Kann man mit KI wirklich Anwendungen erzeugen, ohne selbst coden zu können, mit einem Bruchteil des Aufwands und der Zeit?

"Gib dich dem Vibe hin! Erstelle Software nur mit natürlicher Sprache! GenAI ist der Builder. Hör auf, dich zu beschweren und fang mit builden an!" So oder so ähnlich liest man es neuerdings in den Sozialen Medien.

Was ist dran an dem "vibe coding"?

Der Begriff "vibe coding" wurde von Andrej Karpathy in einem Tweet Anfang Februar 2025 geprägt. Andrej war Direktor für Künstliche Intelligenz bei Tesla und hat davor und danach für OpenAI an ChatGPT gearbeitet. Sicher weiß der Mann, wovon er spricht.

In seinem Tweet beschreibt er, was er mit "vibe coding" meint: Sich nicht um den Code kümmern, sondern ausschließlich KI-gestützte Werkzeuge nutzen. Alle Vorschläge der KI immer annehmen, Fehlermeldungen 1:1 einfach an die KI geben und diese den Fehler beheben lassen. Er beschreibt diese Art, Software zu entwickeln, begeistert und in leuchtenden Farben.

Wichtig ist, den Begriff "vibe coding" abzugrenzen: Nicht jeder Einsatz von Generativer KI (GenAI oder einfach nur KI) ist "vibe coding". Wer Copilot, ChatGPT, Claude, aber auch Cursor oder Windsurf und so weiter nur als eines von vielen Werkzeugen nutzt, um Code zu schreiben, zu verändern oder zu verstehen, der ist noch lange kein "vibe coder". Mit diesem speziellen Begriff ist ausschließlich eine Arbeitsweise mit GenAI gemeint, bei der man sich gar nicht oder fast gar nicht um den erzeugten Code kümmert. Das ist dann die Aufgabe der KI.

Seit dem Tweet von Andrej Karpathy ist der Begriff “vibe coding” überall im Netz zu finden. Allerdings sind die Reaktionen häufig nicht besonders positiv. Die Memes reichen von Witzen:

LinkedIn Posting zu

bis zu eher katastrophalen Meldungen:

2 LinkedIn Posts zu

Wie kann das sein? Wieso kann etwas, das ein echter Profi derartig anpreist, eine so ablehnende Reaktion hervorrufen oder gar katastrophale Wirkung haben? Kommen diese Memes nur von Entwicklern, die um ihren Job fürchten?

Schauen wir einmal an dem Hype vorbei und werfen einen Blick darauf, welche Werkzeuge es gibt, was KI-gestützte Softwareentwicklung kann und was sie vielleicht auch (noch) nicht kann.

Die Agenten kommen

GenAI à la ChatGPT – also einfach einen Prompt eingeben und eine Antwort erhalten – war gestern. Die nächste Generation von KI-Tools sind sogenannte Agentensysteme. Das sind Lösungen, die KI nutzen, um einen Plan zu erstellen, der dann Schritt für Schritt durch "klassische Tools" und auch KI abgearbeitet wird. Prominente Vertreter dieser Gattung für Softwareentwicklung sind Cursor, Windsurf oder auch V0 und seit Neuestem auf Github Copilot mit dem Agenten-Modus.

Derartige Agenten-KI-Tools können selbstständig Programmcode lesen, Vereinbarungen in der Architekturdokumentation nachschlagen, Code entsprechend der Vorgaben erstellen oder ändern, Compile-Fehler korrigieren und auch Tests schreiben und ausführen.

Zwar kann eine solche Aktion etliche Minuten dauern (und viele Token in den KI verbrauchen, die viele Euro kosten), liefert dann aber bedeutend hochwertigere Lösungen als der "einfache" Dialog mit einer KI. Das kann im Einzelfall die Arbeit von Stunden oder vielleicht sogar Tagen ersetzen.

Ich persönlich erwarte, dass sich die Qualität der eigentlichen KI-Modelle (ChatGPT, Claude etc.) in der näheren Zukunft nicht deutlich weiter steigern wird, wohl aber die Qualität der Agenten, die KI mit klassischer Automatisierung kombinieren.

Die Stärken und Schwächen von GenAI in der Softwareentwicklung

Ich arbeite seit über einem Jahr in Kundenprojekten mit Github Copilot und habe in meiner Freizeit bereits eine Menge an (Agenten-) KI-Werkzeugen ausprobiert. Daneben habe ich mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen ausgetauscht, die ebenfalls Erfahrungen mit KI-unterstützter Entwicklung haben. Die Bilder decken sich:

Zu den Stärken von GenAI / KI in der Softwareentwicklung gehören demnach:

  • Übernehmen von repetitiven Aufgaben
    Beispiele sind das wiederholte Füllen von Datenstrukturen oder Durchführen von Mappings, sowie das Aufsetzen von Grundgerüsten für Softwarekomponenten.
  • Zugriff auf gelöste Probleme
    Damit ist gemeint, dass es in vielen Fällen schneller und nützlicher ist, eine KI nach einer Lösung für ein Problem zu fragen, als die Suchmaschine der Wahl anzuwerfen oder in Stackoverflow nachzuschauen. Besonders, wenn die KI Zugriff auf den eigenen Code hat (als Plugin in der IDE), ist die Lösung häufig besser auf die eigene Situation zugeschnitten als alles, was man im Netz finden kann.
  • Erzeugen von kreativen Lösungen
    Manchmal liefert die KI für eine Aufgabe eine besonders effektive oder effiziente Lösung, an die man selbst gar nicht gedacht hätte. Mit dem oben vorgestellten V0 kann man sich z. B. Vorschläge für UI oder sogar ganze UX Flows erzeugen lassen.
  • Erstellen einzelner Module oder Funktionen
    Ist eine gewünschte Funktionalität einfach und vollständig zu beschreiben, können KI-Lösungen hier eine Menge hilfreicher Programmzeilen bauen.

Das liest sich beeindruckend und das ist es auch. Generative KI ist in den letzten zwei Jahren extrem gut geworden – auch im Rahmen der Softwareentwicklung. Ist also der Hype um "vibe coding" gerechtfertigt? Ersetzt die KI im Agentensystem die Softwareentwickler?

Nun, um diese Frage zu beantworten, müssen wir auch einen Blick auf die Schwächen von KI werfen. Diese Liste gilt auch für Agentensysteme:

  • Beherrschen von Komplexität.
    Wenn eine Software wächst, steigt die Menge an Informationen, Regeln, Absprachen etc., die berücksichtigt werden müssen, in der Regel nicht linear, sondern nahezu exponentiell. Eine KI kann diese Menge irgendwann nicht mehr berücksichtigen und beachten. Diese Schwäche gleichen die o. g. Tools durch immer größere Kontexte aus, sowie durch spezielle Dateien, die im Projekt liegen können, in denen man z. B. Coding Richtlinien hinterlegen kann.
    Komplexität ist also im Moment noch ein Problem, aber es kann in der Zukunft kleiner werden. Ich persönlich bin aber nicht davon überzeugt, dass an dieser Stelle KI den Menschen überholen wird. Mal sehen.
  • Korrekte Funktionsweise sicherstellen
    KI versteht nicht, was sie selbst tut. Im Kern wird immer nur das nächste Wort oder das nächste Stück Code erzeugt. KI kann also niemals vollständig verhindern, dass Aktionen unerwünschte Nebenwirkungen haben. Je komplexer eine Anwendung aber ist, desto aufwändiger und fehleranfälliger ist es, manuell die korrekte Funktionsweise sicherzustellen. Automatisierte Tests können hier helfen, aber man muss in einem solchen Fall die Tests anders schreiben, als man es derzeit tut, um den selbst geschriebenen und damit bekannten Code zu testen.
  • Der Output von KI ist nicht deterministisch.
    Die große Stärke von KI, nämlich die (gefühlte) Kreativität, ist gleichzeitig eine große Schwäche. Wie weiter oben gesagt, kann KI z. B. das Grundgerüst für neue Komponenten erstellen. Dabei ist es aber möglich bis wahrscheinlich, dass manche dieser Komponenten unterschiedlich strukturiert werden. Zwar funktionieren sie, aber sie sind nicht miteinander vergleichbar. Je öfter man dann diesen Code ändern lässt (z. B. durch neue Anforderungen), desto mehr driften die unterschiedlichen Code-Teile auseinander.
  • Wartbarkeit
    Eng mit dem Punkt davor verbunden ist zunehmend auffällig, dass KI-generierter Code schwerer wartbar ist als Code, der einen vernünftigen 4-Augen-Review-Prozess durchlaufen hat. Das hat zur Folge, dass es nach dem "vibe coding" schwerer ist, die Anwendung zu ändern oder zu erweitern.
  • Berücksichtigung von Qualitätsanforderungen wie z. B. Betriebssicherheit, IT-Sicherheit, vernünftiger Umgang mit Ressourcen etc.
    KI-Systeme haben anhand von Code aus dem Internet "programmieren gelernt". Ein großer Teil dieses Codes berücksichtigt die oben genannten Qualitätsanforderungen nicht (ausreichend) und die KI demnach auch nicht. Das liegt daran, dass ein Großteil des Programmierwissens der KIs aus Tutorials oder Anleitungen gezogen wird. Und in denen ist IT-Security oder ressourcenschonender Umfang häufig kein Thema.
    Besonders kritisch wird es, wenn jemand, der oder die selbst keine Ahnung von IT hat, eine Lösung ins Netz stellt, die genau diese Anforderungen nicht berücksichtigt hat. Potenzielle Angreifer haben so leichten Zugriff auf unsichere Systeme; die Folgen sind nicht abzuschätzen, aber möglicherweise gravierend. Das zweite oben dargestellte Meme zeigt dieses Problem deutlich. (Ich hoffe sehr, dass das nicht wirklich passiert ist.)

Was ist denn nun richtig? KI einsetzen oder nicht?

Die vorherige Gegenüberstellung zeigt das aktuelle Dilemma. Manch einer sieht vor allem die Stärken und proklamiert den Untergang des Berufsstandes der Softwareentwickler, andere möchten KI am liebsten überhaupt nicht nutzen.

Ich denke, in beiden Standpunkten liegt ein Kern der Wahrheit. Ich persönlich würde folgende Bewertung vornehmen:

  • Mithilfe von KI kann man sehr schnell und effizient bestimmten Code erzeugen.
  • Es ist erstaunlich, wie gut und kreativ die Lösungen manchmal sind.
  • Es macht Spaß, mit diesen Werkzeugen zu arbeiten, wenn man den Umgang einmal gelernt hat.

Aber:

  • Gerade bei großen Anwendungen (also eigentlich alle, die wir im Kundenauftrag erstellen) gerät man sehr schnell an Grenzen, wo die KI nur noch wenig helfen kann oder sogar Schaden anrichtet.
  • Kaum jemand würde den Code 1:1 in Produktion übernehmen. In jedem Fall muss man sich den Code sehr gründlich und kritisch anschauen – kritischer, als man den Code einer Kollegin oder eines Kollegen prüfen würde.

Hat Andrej Karpathy also unrecht?

Nein, hat er nicht. Denn die meisten Leute übersehen einen sehr wichtigen Satz in seinem Tweet: "It's not too bad for throwaway weekend projects, but still quite amusing." Er selbst beschreibt "vibe coding" also als Methode und Werkzeug für Wegwerfprojekte am Wochenende. Kein Satz darüber, dass er hier an den echten, produktiven Einsatz denkt.

Das entgeht vielen offenbar.

Beachtet man die vorgenannten Risiken des vibe codings, sehe ich persönlich durchaus ein paar professionelle Einsatzgebiete:

  • Rapid prototyping
    Mit Agenten-KI kann man sehr leicht Beispielanwendungen bauen, die viel mehr sind als reine Klick-Dummys. Man kann sie für Anwendertests einsetzen oder um Stakeholdern “anfassbare” Lösungsansätze zu präsentieren, nicht aber, um sie in Produktion zu bringen.
  • Ideen generieren
    Gerade Tools, die auch UIs erzeugen, können sehr hilfreich sein, um in der Discovery Phase die Lösung iterativ zu erkunden.
  • Erstellen einzelner Code-Blöcke und Module
    Gerade, wenn etwas mit ein paar Sätzen vollständig beschreibbar ist, können solche Tools auch produktiven Code erzeugen. Nur muss man ihn gründlich prüfen.

Und was ist mit den kühnen Behauptungen, dass KI die Softwareentwickler überflüssig macht?

Um die Frage zu beantworten schaue man sich am besten an, wer solche Behauptungen aufstellt und welche Ziele die Person verfolgt: Sind es es Toolhersteller, die das nächste KI-Werkzeug verkaufen wollen (wobei die meisten von ihnen mittlerweile vorsichtiger argumentieren)? Ist es die Geschäftsleitung, die einen Personalabbau begründen will? Sind es Menschen im Fachbereich, die von KI gehört haben, und die Lösungen eher morgen als übermorgen haben möchten? Oder sind es Anfänger in der Softwareentwicklung, die meinen, man könnte die Lernkurve auf diese Weise abkürzen?

Bisher jedenfalls habe ich keine solche Behauptung von einem erfahrenen Softwareentwickler oder einer Softwareentwicklerin gehört.

Nun könnte man sagen, das seien ja auch genau diejenigen, die ersetzt werden sollen. Das stimmt prinzipiell. Aber es sind auch die einzigen, die eine professionelle Einschätzung geben können. Und – nicht zu vergessen: Die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen nutzen die KI-Tools oft und gerne. Wir fühlen uns nicht bedroht durch die Technik. Die Bedrohung kommt – wenn überhaupt – von Entscheidungsträgern, die den überzogenen Behauptungen mehr glauben als ihren eigenen Kolleginnen und Kollegen.

Fazit

Ich schließe mich Andrej Kaparthy an, "vibe coding" kann eine spannende und lustige Wochenendbeschäftigung und – manchmal – in kleinen Dosen auch im professionellen Umfang nützlich sein.

Niemals allerdings würde ich damit eine Anwendung live setzen. Mein Geld, meine Reputation und meine Sicherheit wären mir dafür viel zu kostbar.

Beitrag teilen

//

Weitere Artikel in diesem Themenbereich

Entdecke spannende weiterführende Themen und lass dich von der codecentric Welt inspirieren.

//
Jetzt für unseren Newsletter anmelden

Alles Wissenswerte auf einen Klick:
Unser Newsletter bietet dir die Möglichkeit, dich ohne großen Aufwand über die aktuellen Themen bei codecentric zu informieren.